EPILOG

2006
Eleonora von Oegenbostel hatte es immer gewusst. Sie hatte nur die Augen davor verschlossen, dass ihr Mann in der Waldhütte die Försterin nicht nur zur Vorbereitung der Jagd traf. Es war ihr lange egal gewesen, doch nun wurde das bunte Treiben langsam zu viel. Freyas kleine Tochter - sah sie nicht aus wie Eugen auf Kinderfotos? Sie würde Freya klipp und klar sagen, dass sie dieses Verhältnis nicht mehr dulden könne. Eugen würde nie und nimmer einen Skandal wollen - und genau den würde er riskieren, wenn Eleonora das Verhältnis ihres Mannes öffentlich machte.
Eleonora sah auf die Uhr. Sie hatte die Försterin dorthin bestellt, wo diese sich sonst mit Eugen traf. Sofort war Freya auf die Ausrede angesprungen, dass etwas Besonderes zu Eugens Geburtstag geplant werden sollte - eine Überraschung in der Waldhütte.

"Hallo Nora!"
Freya Franke trat ein, regennass doch gutgelaunt.
"Freya, schön, dass Du kommen konntest!
"Leg los, wie wollen wir Eugen überraschen?" Geradezu unschuldige Neugier lag auf dem Gesicht von Eugens heimlicher Geliebter.

"Wir werden ihn damit überraschen, dass er künftig ein treuer Ehemann ist. Ich weiss, was läuft und wie lange schon. Doch jetzt, Freya, ist es damit vorbei."
Gerade noch hatte sie gelächelt, jetzt erstarrten Freya Frankes Gesichtszüge. Und sie wusste nichts, wirklich nichts zu erwidern.
"Vielleicht hätte er damals lieber Dich geheiratet, doch Du warst einfach nicht standesgemäß. Und das bist Du immer noch nicht."
Eleonora taten diese Worte schon leid, als sie ausgesprochen wurden. Es klang so hochmütig. Aber war es denn nicht die Wahrheit?
Freya sagte immer noch nichts.
"Du wirst Dich von heute an von ihm fernhalten, von uns fernhalten. Sonst bist Du die längste Zeit Försterin der Waldgemeinschaft gewesen. Ist das klar?"
Eleonora blickte sich nicht um zu Freya, die unruhig durch den Raum tigerte. So konnte sie nicht sehen, dass sich der Blick der Nebenbuhlerin von Erschrecken zu Trauer zu blankem Hass gewandelt hatte.
Freya Frankes Leben - das waren der Wald und Eugen, ihr Jugendfreund, ihre große Liebe.
Wollte Nora, die standesgemäße Nora, ihr, der einfachen Handwerkertochter, nun beides nehmen?
Der Wald - er gehörte Eugen. Und Eugen gehörte Nora. "Jetzt - nicht mehr", dachte Freya, als sie die Axt, die an einer Wand der Holzhütte stand, in beide Hände nahm und die Gutsherrin von Oegenbostel damit traf.

Es war so einfach, die Spuren ihres Tuns zu beseitigen. Eugen und seine Tocher waren das ganze Wochenende auf einem Dressurturnier. Eugen-Eric war ausgezogen. Freya vergrub Noras Leiche im Wald, nahe der Höhe 92. Sie reinigte die Waldhütte von Blutspuren. Sie nahm Noras Schlüssel, ging in das stille leere Gutshaus und packte einen Koffer mit Noras Sachen.
Wieder zuhaus nahm sie den Stapel Notizen, der auf Noras kleinem Schreibtisch gelegen hatte und stellte fest, dass die feinen Blockbuchstaben, die Noras Handschrift ausmachten, recht einfach zu kopieren waren.
Sie war erstaunlich ruhig bei all diesen überlegten Handlungen. Vielleicht war sie jahrelang nicht mehr so ruhig und zufrieden gewesen, wie jetzt, wo der Weg klar vor ihr lag. Eugen würde frei sein, für sie. Eugen würde ihr gehören - so, wie es schon in ihrer Jugend vorgezeichnet war.

Freya schrieb Noras Abschiedsbrief.
"Wenn Du diese Zeilen liest bin ich fort. Ich werde ein neues Leben beginnen - in Chile, meiner wirklichen Heimat. Ich habe Dein Doppelleben mit Freya lange geduldet und ich glaube, dass sie Deine wahre Liebe ist. Darum will ich Euch nicht länger im Weg stehen und auch nicht den Eklat einer Scheidung verursachen. Ich gehe still und verlange nicht die Scheidung. Mein chilenisches Vermögen reicht mir - ich will nichts von Dir. Werde glücklich. Nora"

Eleonora hatte keine nahen Angehörigen ausser Eugen und den Kindern. Und Eugen würde nicht nach ihr suchen lassen, zu peinlich wäre es, die Polizei einzuschalten. Eine von Oegenbostel, die ihrem Mann weglief - er würde das nie zu einem öffentlichen Skandal werden lassen. Freya kehrte in das Gutshaus zurück, fand Noras wertvollen alten Diamant-Schmuck in ihrem Nachttisch, in dem auch das Portemonnaie der Gutsherrin lag. Das Passwort für ihren Mailaccount war darin. Zwei Kontokarten für Konten im Ausland, deren Pinnummern auf kleinen Zettelchen in den Plastikhüllen steckten. Nora machte es ihr wirklich leicht, eine Abreise mit ausreichend Startkapital vorzutäuschen.

Eugen hatte seither nie angezweifelt, dass seine Frau ihn verlassen hatte und noch lebte - irgendwo da draussen in ihrer ersten Heimat Chile, von wo sie der Tochter sporadisch Mails schickte. Erst hatte Freya Postkarten schicken wollen und extra bei Ebay welche aus Chile ersteigert. Doch dann hatte sie auf Eugens Computer Eleonoras Mailadresse gelesen - das Passwort hatte sie ja bereits. Und die Informationen über Chile? Die hatte Wikipedia.

Eleonora war immer eine Herausforderung gewesen mit ihrer Mischung aus Temperament, Schwermut und Sehnsucht nach dem südamerikanischen Bergland. Eugens Leben war einfacher geworden, als sie nicht mehr da war. Eleonoras Koffer auf Freyas Dachboden, versteckt hinter einem Stapel alter Matratzen, setzte eine dichte Staubschicht an, wurde grau wie die Erinnerung an Eleonora de Arion y Salandra, verheiratete von Oegenbostel.
______________________________

Epilog - der Tag nach der Enthüllung

Shiva Schuster stand noch immer unter Schock. Die alte Seele des Brelinger Bergs - die ermordete Eleonora von Oegenbostel? Sie traute sich kaum, auf die kleine Anhöhe zu gehen, auf der die Aura der alten Seele sie stets umfasst hatte. Shiva war sicher, dass dort nichts mehr sein würde. Einfach Stille. Eleonora war ja fort, würde ihre letzte Ruhe finden. Shiva kam jener Stelle Schritt für Schritt näher, an der sie noch vor zwei Tagen einen leuchtendroten Schwall von Licht gesehen hatte. Sie war erleichtert, dass es nicht jene Wahnvorstellungen waren, die ihre Ärzte damals diagnostiziert hatten, als sie begann, Auren zu sehen. Warum hatte Eleonorae nicht auch auf andere Art mit ihr Kontakt aufgenommen, mit den Farben eindeutigere Botschaften gesandt? Shiva würde es nie herausfinden. Sie blieb kurz stehen, ein wenig ängstlich davor, den Wald ohne seinen farblichen Schimmer wahrzunehmen. Dann ging sie entschlossen hinauf. Und stutzte. Nichts hatte sich verändert. Da war sie immer noch, die Aura, die alte Seele.
Das konnte doch nicht sein? Eine Erkenntnis dämmerte langsam herauf. Noch eine alte Seele mit mörderischer Geschichte gab es am Berg sicher nicht.
Shiva Schuster beschloss, gleich am nächsten Tag in die Klinik zu gehen und sich wieder die Medikamente verschreiben zu lassen, die man ihr seinerzeit dagegen geben wollte.
ENDE


Share by: