EINE WOCHE VOR DER HOCHZEIT

Shiva Schuster war froh, als die Gruppe begeisterter hannoverscher Sinnsucher vom Hof war. Es war immer dieselbe Art von Leuten, die sich auf die Anzeigen in einem lokalen Esoterikmagazin meldete und mit ihr den Kontakt zur "alten Seele" des Brelinger Berges suchte. 
Manchmal ärgerte sie sich, diese Geschichte bei einer Messe für alternatives Leben erzählt zu haben. Damit hatte sie, ohne es anzustreben, einen ganz neuen Geschäftszweig ihrer psychotherapeutischen Heilpraxis aus der Taufe gehoben.
Sie zahlten gut, die Abgedrehten, die sie mit direkten Fragen an die "alte Seele" löcherten, auf die sie immer neue Antworten erfinden musste.

Die Geschäftsleute und Frauen mit Doppelbelastung von Familie und Beruf, die vorher ihre Hauptklientel waren, hatten nur für ein sehr knappes, oft nicht ausreichendes Einkommen gesorgt. Anti-Burnout-Therapien zu seriösen Stundensätzen: das hatte ihr immer Freude gemacht. 
Doch diese Patientengespräche und Seminare waren nurmehr ein kleiner Teil ihrer florierenden Praxis.
Die Esoteriker brachten das meiste Geld in die Kasse.
Manchmal fragte sich Shiva, was die alte Seele davon hielt, dass sie mit ihrer Präsenz so verlogen Geld verdiente.
Und in ganz wenigen Momenten fragte sie sich, ob die alte Seele vielleicht doch gar nicht existierte. Ob das Schimmern, die flirrende Aura, die sie über der Kuppe des Berges sah, doch nur Einbildung war. Eine Folge des Zusammenbruches, der damals ihr Leben so drastisch geändert hatte und der dazu führte, dass sie Dinge wahrnahm, die andere nicht wahrnehmen konnten. 
In der Klinik hatte man ihr Tabletten dagegen geben wollen.

Shiva blickte zum Berg und spürte, wie jedes Mal, wenn sie die flirrende Aura fokussierte, eine freundlich gesonnene Präsenz, die sie umhüllte und stärker wurde, je näher sie dem Gauss-Stein kam. Doch mehr war es nie gewesen als dieses diffuse Gefühl des Wissens.

Ein Seminargast hatte heute gefragt, ob die alte Seele ihm einen Berufswechsel empfehlen würde. Shiva stellte jene Fragen, die sie als Therapeutin stellen musste und antwortete nach bestem Wissen. Der Gast ging mit einem Lächeln und Dank an die alte Seele, die mit der Antwort rein gar nichts zu tun hatte.

Wenn sich nur die Farben nicht so geändert hätten, seit Henrick Hoogestrat seine Hotelpläne kundgetan hatte. Von einem ruhigen blau-grün hatte sich die Aura der alten Seele immer mehr in tiefes Rot verwandelt, manchmal rollte ihr ein Schwall dunkler, fast rostiger Rottöne entgegen, wenn Shiva in den Wald ging.

Das Hotel hatte kaum Chancen auf Realisierung - das war wohl allen klar ausser Henrick, seinem Sohn Henner und Heidelinde. Shiva stand auf der Seite der Hotelgegner - denn für sie konnte das wütende Rot nur eines bedeuten: die Erde auf der Kuppe des Hügels durfte nicht geöffnet werden. Die alte Seele zeigte ihr, wem der Berg gehörte und gab ihr die Aufgabe, für ihre Ruhe zu sorgen.
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Eugen-Eric von Oegenbostel blickte dem komischen Haufen hinterher, mit dem Shiva gerade ihre Seelen-Meditation am Berg veranstaltet hatte. Warum machte sie diesen Zinnober nur?
Er wusste, dass sie eine gute Heilpraktikerin für Psychotherapie war, denn sie hatte ihm einfühlsam geholfen, als er ernsthafte Probleme hatte.
So war sie auf den Gutshof gekommen, auf dem Räume für eine Praxis mit darüberliegender Wohnung zu vermieten waren. Doch sie zahlte nicht nur ihre Miete - sie ware ausserhalb der Spökenkiekerseminare auch einfach sympathisch und hatte mit Eugen-Eric Freundschaft geschlossen.

In einem waren sie einig: der Quatsch mit dem Berghotel musste so schnell wie möglich ein Ende finden.
Eugen-Eric wollte auf dem Gutshof nichts als seine Ruhe haben. Als Lehrer an einer Gesamtschule mit vielen Kindern aus schwierigen Verhältnissen brauchte er diesen Rückzugsort jenseits des städtischen Getriebes umso mehr. Heidelinde und ihr Hotelierssohn - für Eugen-Eric eine eigentümliche Liebesgeschichte. Doch er wünschte seiner Schwester, dass sie glücklich würde. 

Zumindest bis vor einigen Tagen hatte er es gewünscht. Da war sie auf einmal mit der Nachricht zu ihm gekommen, dass man dieses Hotel auch auf den großen Acker, direkt angrenzend an den Gutshof, bauen könnte, wenn es für den Berg keine Genehmigung gab. 
Seither tobte wieder diese Wut in ihm, die er mit Shivas Hilfe in zahlreichen Therapiestunden bekämpft hatte. Es passte nicht zu einem von Oegenbostel, cholerische Anfälle zu haben und Menschen laut anzuherrschen. Es passte nicht zu einem verantwortungsvollen Lehrer, den Nachbarn zusammenzuschlagen. Warum nur hatte er das spanische Temperament seiner Mutter ausschließlich im Negativen geerbt?

Lärm machte ihn einfach verrückt. Ließ ihn Emotionen anstauen, bis sie sich unkontrolliert Bahn brachen. Und der Bau eines Hotels neben dem Gutshof und später die Hotelgäste - das würde Lärm machen.
Eugen-Eric beschloss, schon in den nächsten Tagen wieder mit Therapiestunden bei Shiva zu beginnen. Bis zur Hochzeit seiner Schwester, die nicht mehr lange hin war, musste er seine Gefühle wieder besser im Griff haben.
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