DAS FEST, DIE TAT, DIE TRAUER

Nadine Neumann schaute noch einmal auf das Protokoll, das sie gerade geschrieben hatte. Was für ein Tag, was für ein kurioser neuer Fall!
Am späten Nachmittag war der Anruf eingegangen - ein Todesfall bei einer Hochzeit! Jens Jansen, der neue Kollege, der von Ostfriesland in das Kommissariat gekommenn war, hatte sich zufällig in der Nähe befunden.
Ob das wirklich Zufall war? Jansen hatte sich als Fan des Fernsehformates „Zu Gast auf dem Gut“ geoutet, dessen Redakteurin am Sonntag die Braut war. Heidelinde von Oegenbostel - Mitglied der ältesten Wedemärker Familie, wohlhabend, hübsch, intelligent. Einer dieser Menschen, die man beneidet.
Nadine traute ihrem neuen Kollegen auch zu, Schaulustiger bei einer Promi-Hochzeit zu sein.

Dass sie gleich von diesem nervigen Reporter Werner Wieczokeit empfangen wurde, als sie die Szenerie um den Tatort betrat, irritierte die Hauptkommissarin. Es gab nur wenige Morde in ihrem Zuständigkeitsgebiet. Und der Wieczokeit war anscheinend immer involviert. Doch dieser neue Fall, der setzte sogar dem Reporter zu. Mordopfer war nämlich… die Braut!

Heidelinde Hoogestrat geborene von Oegenbostel, frisch verheiratet und im strahlendweißen Brautkleid, lag tot in einem Wohnwagen holländischer Hochzeitsgäste. Was für ein Bild! Als Nadine auf den Wohnwagen zuging sah sie zunächst nur Beine mit weißen Schuhen und einer Woge weißen Stoffes aus der Tür des Campers ragen. Die Drosselmale am Hals des Opfers und die Stauungsblutungen waren eindeutig: Heidelinde von Oegenbostel war erdrosselt worden, der Tod war erst kurz vor dem Eintreffen der beiden jungen Zeuginnen eingetreten, die das Opfer entdeckt hatten. Das Tatwerkzeug war wohl eine Wäscheleine gewesen, die der Eigentümer des Wohnwagens immer nahe der Tür hängen hatte. Sie war am Tatort nicht zu finden. Und er blieb auch verschwunden. Die Spurensicherung würde den gesamten Bereich um das alte Amtshofgelände noch gründlich danach absuchen - das Corpus delicti würde sicher auftauchen, hoffte Nadine.

Nadine Neumann konnte durch Aussagen aus der Familie und von Hochzeitsgästen den Tag recht vollständig rekonstruieren. Gegen 15 Uhr waren die Hochzeitsgäste eingetroffen, der Bräutigam hatte schließlich sehnsüchtig auf den Stufen des Bürgerhauses auf seine Braut gewartet. Sie sei so schön gewesen in ihrem Hochzeitskleid, hatte die Haushälterin Resi Rosenbauer ausgesagt. Ja, eigentlich zu beneiden, diese Heidelinde. Wäre sie nur nicht umgebracht worden.

Der Bürgermeister der Gemeinde Wedemark hatte das prominente Paar persönlich getraut. Nachdem das junge Paar jubelnd begrüßt worden war, hatte der Brautvater zu einer Rede angesetzt, die Nadine im Wortlaut vorlag, weil sie von Eugen von Oegenbostel das Manuskript dazu erhalten hatte:

"Liebe Heidelinde, lieber Henner! Meine lieben Verwandten und Freunde! Ihr seht mich glücklich, so glücklich ie schon lange nicht mehr.
Heute ist ein großer Tag für zwei Familien, die gemeinsam noch viel vorhaben. Ich begrüße Henner in unserer Familie und freue mich über einen so begabten sympathischen Schwiegersohn! Mit ihm und den Plänen des jungen Paares für den Bau des Hotels 122 beginnt auch auf unserem Gutshof eine neue Ära. Ich freue mich, Euch mitteilen zu können, dass wir schon morgen früh einen Termin bei unserem Notar haben, denn ich möchte meiner wunderbaren Heidelinde den Wald überschreiben, den sie zum Bau des Hotels braucht."

Was diese Rede ausgelöst hatte, konnte Nadine auf einem Video sehen, das die Hochzeitsfotografin gemacht hatte.Eigentlich wollte sie eine rührende Szene filmen, doch dann hatte es plötzlich Ärger gegeben.

Die Frau neben Eugen von Oegenbostel war, wie Nadine erfuhr, nicht die Brautmutter, sondern Eugens Lebensgefährtin Freya Franke. Sie hatte plötzlich gerufen: "Eugen! Das tust Du nicht wirklich."
Der Film zeigte, wie Eugen ihr beruhigend den Arm um die Schulter legte und weiterredete "Ich weiß, auch in unserer Familie sind nicht alle Freunde des Hotelprojektes. Doch wenn es erst stolz und anmutig über dem Berg steht, werdet Ihr es auch liebgewinnen!"

Als nächstes sah man im Film, dass Freya sich aus Eugens Arm wand und Abstand nahm.
Währenddessen kam ein jüngerer Mann langsam die Stufen hoch, ungläubig schauend. Nadine hatte herausgefunden, dass es sich um Eugen-Eric von Oegenbostel, den Bruder der Braut, handelte.

Eugen selbst hatte unbeirrt weitergeredet. "Lasst uns nun gemeinsam feiern - so einen schönen Tag werden wir so schnell nicht wieder erleben. Lasst uns gemeinsam für das Brautpaar singen: Hoch solln sie leben, hoch solln sie leben, dreimal hoch. Noch viele Jahre, solln sie leben, noch viele Jahre glücklich sein.“

Beim lebhaften fröhlichen Gesang der Hochzeitsgäste wirkten die betretenen, fast wütenden Gesichter des Sohnes und der Lebensgefährtin Eugen von Oegenbostels besonders unpassend.

Schließlich ergriff die Braut das Wort, nachdem sie ihren Vater herzlich umarmte.
"Vater, es ist eine wunderbare Überraschung, dass Du uns den Wald zum Geschenk machst. Ich danke Dir dafür. Wir sind so glücklich, damit krönst Du diesen Tag, nicht wahr Henner? Ich möchte Euch noch ein kleines Geheimnis verraten: Schon für morgen haben wir eine erste Probebohrung am Gauss-Stein geplant, mit Papas Einverständnis. Der liebe Kurt und seine Mitarbeiter werden dann für uns an verschiedenen Stellen das Erdreich öffnen, damit wir bald wissen, ob der Untergrund für das Bauprojekt geeignet ist. Doch bevor morgen die Bagger anrollen: Lasst uns heute feiern!"  

Weiter kam die glückliche Heidelinde nicht, sie wurde von ihrer Stiefmutter unterbrochen. Freya Franke konnte nicht mehr an sich halten. Sie ging zu Eugen und herrschte ihn an: "Eugen von Oegenbostel - für mich ist dieses Fest beendet. Wie kannst Du mich so verraten!"  

Eugen antwortete sichtlich verstört: "Freya, es ist doch nur ein Wald!"
"Ja, mein Wald, mein Forstrevier. Ich fahre jetzt nach Haus. Und denk nicht, dass Du heute Abend im Forsthaus willkommen bist."
Nadine runzelte die Stirn, als sie die Videoszene anschaute, in der Freya Franke wütend aus dem Bild stapfte.

Jetzt trat Eugen-Eric von Oegenbostel zum Vater, eine Frau, die man Nadine als Shiva Schuster identifiziert hatte, stand hinter ihm: "Freya hat Recht, Du bist ein Verräter an allem, was den Oegenbostels je wichtig war."
Der empörte Mann wandte sich schließlich sich zu seiner Schwester und ihrem frischgebackenen Ehemann: "Meinen Glückwunsch, dass habt Ihr ja fein eingefädelt!"
Ärgerlich verschwand auch er aus dem Bild, gefolgt von der seltsamen Frau mit dem irren Blick, die ihm zurief: "Ganz ruhig atmen, Eric, ganz ruhig."

Nadine hatte nach diesen Szenen das Video erstmal pausiert. Sowas bei einer Hochzeit! Da waren schon zwei Menschen mit einem Motiv. Und dazu noch diese komische Shiva, die schließlich auch den Amtshof verlassen hatte und irgendwo seitlich davon verschwunden war.

Die Braut warf, anscheinend ungerührt von den Streitigkeiten starhlend ihren Brautstrauß in die Menge und umarmte schließlich die Frau, die den Strauß fing. Doch was Heidelinde sagte, klang komisch: „Dur wirst auch noch den richtigen mann finden, liebe Martje.“ Und dann nach einer Pause, etwas spöttisch: „Vielleicht…“
Was war das denn für eine Stichelei?

Als Nadine alles protokolliert hatte, was sie im Video sehen konnte, drückte sie wieder auf „Play“. Jetzt musste der Moment nahen, an dem sich die Braut ebenfalls von den Stufen entfernte - sie musste nach hinten zu den parkenden Autos gegangen sein - freiwillig und ohne Gewaltanwendung, denn es gab keine Kampfspuren außer den Strangulationsmalen am Hals.

Tatsächlich konnte Nadine im Film sehen, wie Heidelinde mit etwas genervtem Blick und kopfschüttelnd über die Vorkommnisse ihrem Vater etwas zuflüsterte, dann ein künstlich strahlendes Lächeln aufsetzte und aus dem Bild ging.
Dort, wo sie hingegangen war, nach Aussage des Vaters wollte sie eine Zigarette rauchen und dabei nicht von den Gästen beobachtet werden, hatte sie ihren Mörder oder ihre Mörderin getroffen.

Die Stiefmutter und den Bruder setzte Nadine schonmal auf die Verdächtigenliste. Die Dame namens Shiva Schuster ebenfalls. Doch es waren den Hochzeitsgästen noch weitere Menschen aufgefallen, die zwischenzeitlich den Platz verlassen hatten. Der Bräutigamsvater Henrick Hoogestrat war um eine Hausecke verschwunden und erst wieder aufgetaucht, als die Tote längst entdeckt war. Auch er hätte die Tat also begehen können. Und die Cousine des Bräutigams, eine blonde Dame namens Martje van de Molen, hatte nach Aussagen von Zeugen den Platz auf den Stufen fast fluchtartig verlassen und war nach einiger Zeit verstört zurückgekommen. „Die hat dann minutenlang an die Wand gelehnt dagestanden, als hätte sie einen Geist gesehen“, berichtete ein Hochzeitsgast. Wie sich herausstellte, war das eben jene junge Frau, die den Brautstrauß gefangen hatte!

Nadine arbeitete die Fotos durch, die ihr von der Hochzeitsfotografin in die Dropbox gesandt worden waren. Auch die Holländerin war darauf zu sehen, zunächst immer fröhlich und lächelnd, später dann, um die Zeit herum, als der Mord geschehen sein musste, mit leerem Blick an einer Wand lehnend.
Dass es sich hier um eine Tat handelte, die nicht durch einen unbekannten Täter verübt wurde, schien Nadine so klar wie selten in einem Fall.

Fünf Personen hatte sie auf der Liste der Verdächtigen, denen sie besonders auf den Zahn fühlen wollte. Die Lebensgefährtin des Brautvaters, die zum Tatzeitpunkt allerdings längst zuhaus im Fortsthaus Oegenbostel gewesen sein wollte. Den Bruder des Opfers, der, wie Nadine in Erfahrung gebracht hatte, sogar mit seiner Therapeutin zur Hochzeit gekommen war. Die Therapeutin selbst, die angeblich mit einem Geist im Brelinger Berg sprach und ein Hotel verhindern wollte, dass Heidelinde und Henner Hoogestrat bauen wollten, war auch nicht ganz ohne.
Dann der Bräutigamsvater, der so ahnungslos tat - das waren oft die Schlimmsten. Und schließlich diese nette Holländerin, die einige Minuten verschwunden war und nahezu traumatisiert zurückkam.

„Eine oder einer davon war’s“ murmelte Nadine, der die Augen flimmerten. Hunderte Bilder und zwei Stunden Filmmaterial hatte sie ausgewertet. Selten war der Schauplatz eines mörderischen Geschehens fotografisch so gut dokumentiert worden wie bei dieser Hochzeit. Fotos, die eigentlich mal ein schönes Album zieren sollten. Nun würden sie die Fallakte eines Tötungsdeliktes zieren...
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